Eine scheinbar paradoxe Lösung, wie Sie Konflikte vergrößern

Sie haben einen interessanten Protagonisten mit Identifikationspotenzial erschaffen und ihm einen noch interessanteren Antagonisten zur Seite gestellt. Dann geben Sie ihnen einen Knochen, den sie beide unbedingt haben müssen und lassen sie aufeinander los.
Perfekt!

Es geht noch viel besser. So gut die beiden Charaktere für sich genommen sein mögen und so stark ihre gegenläufigen Ziele auch sind, der Konflikt lässt sich noch vergrößern. Und zwar, indem Sie ihn … verkleinern.

Klingt paradox? Sehen wir uns ein Beispiel an, aus dem Weltbestseller »Water for Elephants« (Algonquin Books of Chapel Hill 2006 / dt. »Wasser für die Elefanten«). Autorin Sara Gruen hat das Buch übrigens – und wenn das mal kein Ansporn für Sie ist – als ihren Beitrag zum National Novel Writing Month geschrieben.

Protagonist Jacob Jankowski gerät in den 1920er-Jahren in den USA zufällig zum Zirkus. Dort verliebt er sich in die Artistin Marlena. Dumm nur, Marlena ist verheiratet. Ihr Mann, August, ist nicht nur ein charismatischer Mann und begnadeter Dompteur, sondern auch ein paranoider Schizophrener, der mal lieb und charmant sein kann und dann wieder rasend und brutal. Die drei bilden, als Kollegen, eine Art Freundschaftsdreieck, sie verbringen viel Zeit miteinander; echte Freundschaft aber kann sich keine entwickeln.
»Water for Elephants« ist eine Liebesgeschichte (eigentlich zwei: auch eine Geschichte der Liebe zum Zirkus), daher ist Jacobs Gegenspieler natürlich August.
Der zentrale Konflikt ist klar: Beide wollen Marlena. (Er hätte noch interessanter ausfallen können, wenn Marlena mit ihren Gefühlen zwischen den Männern hin- und hergerissen wäre.) Wie verstärkt Autorin Sara Gruen diesen zentralen Konflikt? August schenkt Marlena ein kostbares Halsband – und er schenkt auch Jacob etwas. Es ist nicht irgendein Geschenk, sondern eine teure goldene Uhr. Und das kurz nachdem Jacob seine eigene Uhr, ein Erbstück, verkaufen musste, um für einen Freund den Arzt zu bezahlen!

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Wären Jacob und August echte Freunde, wäre die Sache einfach; Jacob würde sich freuen, durch das so passende Geschenk wären die Freunde womöglich noch enger aneinander gebunden. An der Oberfläche scheint eine solche Geste dazu geeignet, einen Konflikt abzuschwächen. Tatsächlich aber spitzt es die Situation zu. Jacob steht nun in Augusts Schuld. War das etwa Augusts Absicht? Oder war es nur ein Auswuchs seiner zwiespältigen Persönlichkeit? Für Jacob wird die Lage damit noch schwieriger, die Situation unerträglicher, sprich: Der Konflikt nähert sich seiner explosionsartigen Entladung.

Diese Variante, einen Konflikt zwischen Held und Gegenspieler zu verschärfen, ist ein Ergebnis der Schmelztiegel-Situation: Beide Konfliktparteien können der Situation nicht entkommen (Beispiel: Rettungsboot, Forschungsstation in der Antarktis bei Sturm, steckengebliebener Fahrstuhl). In unserem Beispiel kann Jacob das Geschenk nicht zurückweisen, weil er August, seinen Vorgesetzten, nicht verärgern will, sonst verliert er seinen Job und vor allem jede Chance, Marlena zu sehen.
Ähnliche Konflikte ergeben sich allgemein aus Situationen, wo der Protagonist dazu gezwungen ist, dem Antagonisten zu helfen, ihm beizupflichten, Glück zu wünschen, für ihn einzutreten und so weiter. Ein klassisches Beispiel ist die Verbindung zwischen Clarice Starling und Hannibal Lecter in »Das Schweigen der Lämmer«. Starling ist auf den Serienkiller Lecter angewiesen, um einen anderen Serienkiller zu finden.

Diese gezwungene Annäherung können Sie wiederum dazu benutzen, den Helden zu vertiefen oder sympathischer zu machen – indem er sich eben nicht darauf einlässt. Wie in dem Filmklassiker »Ist das Leben nicht schön?«, wo Held George Bailey gezwungen wird, zum Bösewicht Potter zu gehen. Er will dort um einen Kredit bitten, nicht für sich, sondern für die Menschen, denen der Ruin von Baileys Bank schaden würde. Doch im letzten Moment, als sie schon dabei sind, den Deal zu besiegeln, wacht George Bailey auf und überlegt es sich anders. Er wird keinen Pakt mit dem Teufel eingehen! Er findet einen anderen Weg.

Eine weitere Möglichkeit, den Konflikt zwischen Held und Schurke zu vertiefen: Der Held rettet den Schurken. Diese Variante findet sich in vielen Büchern und Filmen. Was für eine tolle Möglichkeit, den Helden wirklich als großmütig darzustellen. Wider besseres Wissen, gegen die eigenen Interessen rettet er den Bösen. Dabei weiß er genau, dass der Böse ihm das nicht danken wird.

Wichtig bei der hier in mehreren Varianten beschriebenen Art der Konfliktverschärfung: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Held und Ihr Gegenspieler möglichst viele Szenen zusammen haben. Wie in »Water for Elephants«. Noch wichtiger: Falls es nur wenige Szenen sind – wie in »Das Schweigen der Lämmer« oder auch in »Ist das Leben nicht schön?« –, dann sollten diese Szenen zu den stärksten in Ihrem Roman gehören. Gutewicht und Bösewicht zusammen? Besser geht’s nicht. Das müssen Ihre Leser spüren.

Auch in einem Liebesdrama ohne Gegenspieler – die Liebenden sind einander Gegenspieler – können Sie dieses Verfahren (Konflikt vergrößern, indem Sie den Konflikt verkleinern) anwenden. Ein Paar streitet, die Frau denkt daran, den Mann zu verlassen. Die Beziehung kostet sie zu viel Kraft. Sie ringt sich zu der Entscheidung durch – und da tut der Mann etwas unendlich Liebes. Nein, jetzt kann sie ihn nicht verlassen. Doch sie kommen sich dadurch nur oberflächlich wieder näher. Da sie in der Beziehung bleibt, gärt der Konflikt unter der Oberfläche und wächst weiter.

Wenn Sie also wieder darüber nachdenken, wie Sie einen Konflikt vergrößern, spielen Sie auch die Möglichkeit durch, ihn zunächst zu verkleinern. Oft sind das die besten Geschichten. Und genau eine solche wollen Sie doch schreiben, oder?

Danke fürs Lesen. Und jetzt weiter im Text. In Ihrem.

Stephan Waldscheidt

(c) SW 2014

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??? Meine Frage an Sie: Wie kann man Konflikte noch durch Verkleinern vergrößern? Beispiele? Wie machen Sie’s? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort — bitte hier als Kommentar …

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